den Artikel als PDF ( zum runterladen / ausdrucken)
Vor ein paar Tagen stand ich wieder einmal sprachlos da und lauschte den erfundenen Geschichten einer Nachbarin, die krampfhaft übertünchen wollte, dass sie ihren Hund nicht artgerecht hält. Sie wusste eben nicht, dass mir ihr Mann längst erzählt hatte, was wirklich Sache ist.
Doch anstatt mich zu ärgern, stellte ich mir diesmal die Frage nach ihren Motiven. Was bringt uns Menschen eigentlich dazu so unverhohlen zu lügen?
Sieh die Angst – geh in das Mitgefühl
Ganz klar die Befürchtung, dass die anderen ihre Schwächen und Fehler allzu deutlich sehen. Denn dann könnte man ja einen Angriffspunkt bieten oder gar zur Zielscheibe werden. Es ist also eine extrem defensive Haltung, ein Akt der Verteidigung könnte man fast sagen.
Denn durchdacht oder schlau ist es nicht, anderen ins Gesicht zu lügen. Es wird durchschaut und der Lügner fällt erst recht in Ungnade. Genau das, was er eigentlich zu verhindern versuchte mit den Unwahrheiten. Stattdessen grenzt er sich selbst aus und stösst andere vor den Kopf, denn niemand wird gerne belogen.
Warum kostet es so viel Überwindung einfach und ehrlich zu sagen, was Sache ist? Ist es zu wenig Vertrauen in das Wohlwollen und die Unterstützung anderer? Manchmal ist uns die Wahrheit auch einfach nur peinlich.
Dabei ist die Einsicht eigener Schwächen meist viel sympathischer als jedes Täuschungsmanöver.
Enormes Ausmass
Und trotzdem versucht sich jeder von uns mit kleineren oder grösseren Schwindeleien durchzuboxen, Konflikte zu vermeiden oder vielleicht nur die Tatsachen zu beschönigen. „White lies“ also harmlose Unwahrheiten oder kleine Notlügen sind ja schliesslich nicht so schlimm und der Zweck heiligt die Mittel. Sagt man.
Aber irgendwie stinkt uns das schon ein wenig. Denn es ist anstrengend sich etwas Stimmiges spontan auszudenken und manchmal setzt man sich damit sogar ganz schön in die Nesseln.
Und im Prinzip wären wir ja auch gerne hundertprozentig ehrlich. Denn es ist einfach so, wie es ist. Und es ist mühsam vor jedem Satz nachzudenken, bevor man ihn ausspricht und sich dann auch noch zu merken, was man sich da gerade wieder ausgedacht hat.
Und Verheimlichen ist auch etwas Anstrengendes. Die Bewahrung von Geheimnissen führt häufig zu Anspannungen und auch immer wieder zu kleineren Konflikten mit anderen.
Mein Traum: ein Paradies der Wahrheit
Ich hab mal darüber nachgedacht, wann ich selbst anfing mit diesen kleinen Schwindeleien und vor allem warum. In der Schulzeit lernt man sehr effizient das zu sagen, was akzeptiert ist und auf Verständnis stösst. Zudem eine kleine Mitleidstour und eine Prise Verheimlichung. Das ist das Rezept um möglichst reibungslos durchs Leben zu gehen – lernen wir in der Schule. Und dazu gehören einfach Unwahrheiten, sie sind quasi gesellschaftlich akzeptiert und werden schon mal verziehen, spätestens in der Beichte.
Bloss wenn wir erwachsen werden, dann sind wir es, die belogen werden: von unseren Mitmenschen, von der Werbung, den Medien und natürlich von uns selbst. Und nichts ist so ärgerlich, so blockierend und so schmerzhaft wie der Selbstbetrug.
Wäre es nicht schön wir könnten einfach unbefangen ehrlich sein und sagen, was wir denken? Wenn wir davon ausgehen könnten, dass andere Verständnis haben und wir ihnen nicht vorspielen müssten, perfekt zu sein?
Stell dir mal diese Freiheit und Entspannung vor!
Menschen leben unverhohlene Ehrlichkeit, eine Welt ohne Blatt vor dem Mund und Misstrauen wird überflüssig. Das wäre doch phantastisch.
Die Lösung dazu: radikale Ehrlichkeit auf ganzer Linie, sonst werden wir diese schlechte Gewohnheit nicht los.
die Challenge
Wenn wir also selbst nicht belogen werden wollen, ist der einzige Weg raus aus dem Kuddelmuddel mit gutem Beispiel voran zu gehen.
Versuchen wir mal einen ganzen Tag 100% ehrlich zu sein und nicht die Unwahrheit zu sagen, auch nicht durch absichtliches Verschweigen.
Angeblich soll das total schwer sein. Wahrscheinlich habe ich das eben noch nie konsequent durchgezogen, denn ich stelle es mir leicht vor und sogar befreiend.
Es wird vielleicht auch eine Weile dauern so richtig eingefleischten Selbstbetrug zu entdecken, weil ich ihn schon längst nicht mehr bemerke. Ich denke jedoch, dass er mit dieser Übung wieder sichtbar werden könnte und aus dem Unbewussten auftauchen.
Ehrlichkeit ist eine Gewohnheit
Wir wollen doch mit der Wahrheit eine gute Beziehung haben und dafür ist es nötig konsequent in jeder Hinsicht zu sein. Die eigentliche Herausforderung dahinter ist es natürlich die eigene Geisteshaltung zu korrigieren, mit fester Entschlossenheit und der Zuversicht, dass es der beste Weg ist.
Natürlich gilt es auch die sprachlichen Fähigkeiten etwas zu strapazieren und jede Wahrheit herzlich und liebevoll zu verpacken. Gute Wortwahl und Timing sind wichtige Komponenten für Diplomatie und Kommunikation. Werden wir damit also etwas geschickter, dann können wir wesentlich besser unserem Herzen folgen und ehrlich sein.
Da sitzen wir alle in einem Boot.
Also bereit für die Challenge?